Das Kleinod des „Vier-Mühlen-Dorfes“
Die Wassermühle Bohle im Lotter Ortsteil Wersen macht lokale Kultur- und Wirtschaftsgeschichte erfahrbar
Das in früheren Zeiten als „Vier-Mühlen-Dorf“ bezeichnete Wersen verfügt mit der Wassermühle Bohle über ein herausragendes technisches Kulturdenkmal. 2021 mit dem Brauchtumspreis des Kreises Steinfurt ausgezeichnet, präsentiert sich das Mühlenensemble als ganzjährig belebtes und beliebtes Kleinod. Exemplarisch zeigt sich hier, wie durch den beharrlichen Einsatz von Mühlenfreundinnen und -freunden Kultur- und Technikgeschichte erhalten und erfahrbar gemacht werden kann./
„Welch ein Anblick“ möchte man ausrufen, wenn sich, am Rande des Flüsschens Düte stehend, die Wassermühle Bohle von ihrer schönsten Seite zeigt. Ein sonniger Herbsttag ist sicherlich ein guter Zeitpunkt für einen Besuch dieses Kulturdenkmals, welches über viele Jahre hinweg und mit viel Liebe zum Detail, restauriert wurde. Etwas versteckt am nordöstlichen Rand von Wersen gelegen und entfernt von stark befahrenen Straßen, ist diese Wassermühle ein Ort, an dem Besucher auf Tuchfühlung mit der Lokalgeschichte gehen können. Auch Kultur- und Naturfreunde kommen hier auf ihre Kosten, etwa beim alljährlich stattfindenden Picknickkonzert im August, oder, mit etwas Glück, bei der Beobachtung eines pfeilschnellen Eisvogels an der Düte.
Besonders voll wird es auf dem Areal am Deutschen Mühlentag, der in jedem Jahr traditionell an Pfingstmontag stattfindet und an und in der Mühle Bohle mit zahlreichen Aktivitäten begangen wird. Wer eher die Ruhe und Beschaulichkeit in dieser idyllischen Umgebung sucht, wird an vielen anderen Tagen des Jahres nicht enttäuscht werden. Dann wirkt die Mühle und ihre Umgebung fast wie ein Geheimtipp, der noch auf seine Entdeckung wartet.
Orte der Identifikation
Die Mühle Bohle ist das mit Abstand am besten erhaltene Bauwerk seiner Art in Wersen. Von den einstigen mindestens vier Wassermühlen, denen das Dorf seinen früher geläufigen Beinamen verdankt, existieren heute noch drei, darunter auch die Tüchter-Mühle sowie die Mühle Borgmann. Während letztere schon seit langem als Wohnhaus genutzt wird, ist die Tüchter-Mühle, zumindest von außen, ebenfalls für die Öffentlichkeit zugänglich.
Die Existenz dieser drei Wassermühlen bis in die heutigen Tage verdeutlicht, dass das Bewusstsein für ihre kulturhistorische Bedeutung in Wersen besonders ausgeprägt ist. Nach dem Verlust ihrer wirtschaftlichen Funktion entwickelten sich die Wassermühlen hier nach und nach zu Orten der Identifikation, zu Sinnbildern für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Dorfes. Als Wahrzeichen Wersens hat die Mühle Bohle dabei eine besondere Stellung inne.
Die Existenz dieser drei Wassermühlen bis in die heutigen Tage verdeutlicht, dass das Bewusstsein für ihre kulturhistorische Bedeutung in Wersen besonders ausgeprägt ist. Nach dem Verlust ihrer wirtschaftlichen Funktion entwickelten sich die Wassermühlen hier nach und nach zu Orten der Identifikation, zu Sinnbildern für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Dorfes. Als Wahrzeichen Wersens hat die Mühle Bohle dabei eine besondere Stellung inne.
Die Geschichte der Mühle Bohle
Der genaue Zeitpunkt der ersten Nutzung als Wassermühlenstandort liegt im Falle der Mühle Bohle im Dunkeln. Gesichert ist, dass im Übergang vom 13. zum 14. Jahrhundert auf Geheiß des Tecklenburger Grafen einer Kupfermühle an gleicher Stelle der Düte errichtet wurde. Auch der Bau der heute noch existierenden Kornmühle Tüchter und der Ölmühle Borgmann fällt in diese Zeit. Nach 200 Jahren ihrer Existenz hatte sich die Mühle Bohle zu einer Doppelmühlenanlage erweitert. An die Stelle der Verarbeitung von Kupfer war die Nutzung als Boke- und Walkemühle getreten. Beim Boken ging es um die Verarbeitung von Flachs zur Leinenherstellung. Dabei wurde die harte Stange des Flachsstengels zerstoßen, um an die begehrten, weichen Fasern zu gelangen. Die Walkemühle ermöglichte das pressen, kneten und reinigen von frisch gewebtem Tuch, dass dadurch verdichtet und veredelt wurde und eine wasserabweisende Struktur erhielt. Das für die Grafschaft Tecklenburg so bedeutsame Leinen wurde durch leichtes walken geschmeidiger gemacht.
Die unruhigen Zeiten der Dreissigjährigen Krieges gingen auch an der Mühle Bohle nicht spurlos vorbei. Die Mühlentechnik wurde im Zuge von Besetzungen durchziehender Verbände stark beschädigt und erst 1669/70 umfassend erneuert. Graf Moritz von Tecklenburg (1615-1674) förderte nach Kriegsende verstärkt den Flachsanbau zur Leinenproduktion. Letztere erfolgte meist in der Hausindustrie als dezentrale Form der Arbeitsorganisation. Das Tecklenburger Leinen war gefragt und bescherte der Grafschaft einen bescheidenen wirtschaftlichen Aufschwung und Wassermühlen wie der Mühle Bohle reichlich Aufträge. Um die Qualität des Tecklenburger Leinens zu gewährleisten, mussten die Erzeugnisse der Weber zur Qualitätsüberprüfung in der „Legge“ (Niederdeutsch für „legen“) vorgelegt werden, einer zentralen Prüf- und Sammelstelle. Nach bestandener Beschau durch den Leggemeister erhielt das Leinen als Prüfnachweis einen Farbstempel. 1707 fiel die Grafschaft Tecklenburg an Preußen,
die Leinenproduktion blieb aber ein wichtiger Wirtschaftszeig und, neben der Landwirtschaft, wichtigste Erwerbsquelle der Bevölkerung. Vor allem über Bremen gelangte Leinen aus der Grafschaft Tecklenburg nach England und von dort aus sogar in die nordamerikanischen Kolonien. Die napoleonische Kontinentalsperre (1806-1814) sorgte für eine schwere Krise, nahm sie doch dem Hausleinengewerbe in der Grafschaft seine wichtigsten Absatzmärkte. Weitere Faktoren sorgten für einen anhaltenden Einbruch der Leinenproduktion. Der Niedergang dieses für die Grafschaft Tecklenburg so wichtigen Gewerbes setzte sich in den folgenden Jahrzehnten weiter fort.
Die Mühle Bohle hatte sich den veränderten Marktbedingungen schon früh angepasst und bestand 1831 aus einer Kornmühle sowie einer Ölmühle für Raps und Leinsamen. Ebenfalls angegliedert wurde eine Sägemühle. 1842 erfolgte der Bau einer Dreibogenbrücke aus Kalksandstein über die Düte, die dem Mühlenensemble auch heute noch optisch seine ganz besondere Prägung verleiht. Das vergleichsweise kostspielige Bauwerk verdeutlicht den damaligen wirtschaftlichen Stellenwert des Mühlenstandortes.1906 ersetzte der Müller Heinrich Bohle die Kornmühledurch einen Neubau. Ab 1920 wurde die Mühle auch zur Stromerzeugung genutzt. Einen Einschnitt markiert das Jahr 1931, als das Hauptgebäude bis auf die Umfassungsmauern niederbrannte. Im Zuge des Wiederaufbaus wurde das Innere erneuert und 1946 eine Aufstockung vorgenommen. 1965 stellte die Kornmühle ihren Betrieb ein und 1975 wurde auch die Sägemühle aufgegeben. Eine jahrhundertelange wirtschaftliche Nutzung und mit ihr ein Stück lokaler Wirtschaftsgeschichte endete. Achtzehn Jahre später wurde die Mühle Bohle als Baudenkmal ausgewiesen und eine neue Ära begann.
Die umfassende Restaurierung der Mühle Bohle
Unter der Regie des Heimatvereins Wersen und der Mitarbeit der auf dem Mühlenareal lebenden Familie Schwentker-Bohle begannen 1993 umfassende Arbeiten zur Grundsanierung des Baudenkmals. Neben der Verfugung des Mauerwerks und der Restaurierung von Fensterrahmen wurde auch das Dach über der Sägemühle erneuert, wobei es die denkmalbehördlichen Vorgaben genau einzuhalten galt. Unter großem ehrenamtlichen Einsatz folgten weitere Arbeiten. Dass die Düte zuweilen auch ein unberechenbares Gewässer sein kann, zeigte sich 2010, als Regenmassen den Fluss über die Ufer treten ließen und den gesamten Mühlenhof überfluteten. 2012 kam es zur Gründung des Mühlenvereins. Im Folgejahr wurde in den rechtsseitigen Mühlengang ein neues Mühlrad installiert. Die ehemalige Doppelmühlenanlage wird auch heute noch zu Demonstrationszwecken betrieben. Dabei greift das unterschlächtige Wasserrad mit seinen gebogenen Schaufeln ins Wasser und treibt mithilfe einer Transmission über der Düte die Geräte in der einstigen Korn- und Sägemühle an.
Beispielhafter Einsatz
2021 wurde der Verein Mühle Bohle für seinen beispielhaften Einsatz zum Erhalt des Mühlendenkmals mit dem Brauchtumspreis des Kreises Steinfurt ausgezeichnet. Die Mühle sei nicht nur vorbildlich restauriert worden, sondern mit vielfältigem Leben erfüllt und für die Menschen in der Region ein wichtiger Anlaufpunkt, hieß es in einer Laudatio des Vorsitzenden der Westfälisch-Lippischen Mühlenvereinigung Thomas Kubendorff. Gewürdigt wurde auch die Nutzung der Mühle als außerschulischer Lernstandort sowie der Bau einer Fischaufstiegsanlage, welche die ökologischen Belange der Düte berücksichtigt.
Die Fischaufstiegsanlage
Um die Fischwanderung an diesem Standort zu ermöglichen, wurde 2016 in den alten linksseitigen Mühlengang eine Fischaufstiegsanlage eingebaut. Diese besteht aus einem kiesgefüllten Stahltrog, der durch Querwände in 9 Becken unterteilt ist. Die seitlichen Aussparungen in den Querwänden lassen das Wasser durch die Becken strömen und ermöglichen es den Fischen, den Höhenunterschied am Mühlenwehr zu überwinden. Rund 20 Fischarten passieren die Aufstiegsanlage bei ihrer stromaufwärts gerichteten Wanderung, wie eine einjährige Untersuchung mittels einer Reuse ergab. Neben Arten wie Elritze, Bachschmerle, Groppe und Gründling zählen dazu auch Bachforelle, Aal und Flussbarsch.
Anschauliche Erlebnisse
Als außerschulischer Lernort bietet die Mühle Bohle seit 2014 Schulklassen der Gemeinde Lotte und der Region die Möglichkeit, sich über das historische Müllerhandwerk und die Geschichte dieses Ortes lebensnahe zu informieren. Themenschwerpunkte wie „Vom Korn zum Brot“ oder „Was macht Brücken so stabil?“ sorgen dabei für anschauliche Erlebnisse und Erkenntnisse.
Besonders lauschig wird es auf dem Mühlengelände, wenn dort im August das alljährliche Picknickkonzert stattfindet. Über 300 Besucherinnen und Besucher genießen dann auf festlich dekorierten Tischen ihre mitgebrachten Speisen, während auf der Bühne Künstler ein anspruchsvolles Musikprogramm darbieten. Bunt illuminiert entfaltet die Mühle Bohle zu diesem Anlass einen ganz besonderen Reiz.
Panoramablick auf die Mühlenanlage
Der Mühlenweg am Wiehengebirge
Wer den Besuch der Mühle Bohle mit einer Wanderung verbinden möchte, dem sei der „Mühlenweg am Wiehengebirge“ empfohlen. Den Spuren des Müllerhandwerks folgend können auf diesem gut ausgeschilderten Wanderweg insgesamt neun Wassermühlen und zwei Windmühlen erkundet werden. Fast alle sind voll funktionstüchtig und für eine Besichtigung zugänglich. Der insgesamt 97 Kilometer lange Mühlenweg lässt sich individuell in verschiedene Etappen einteilen. Der Abschnitt von Wersen über die niedersächsische Landesgrenze hinweg nach Osnabrück-Pye und weiter über Lechtingen und Wallenhorst nach Rulle gehört dabei sicherlich zu den schönsten.
Wem eher nach einer Kurzwanderung oder einem Spaziergang ist, dem sei das idyllische Umfeld der Mühle Bohle empfohlen, das zu Erkundungen auf eigene Faust einlädt. Um das empfindliche Ökosystem der Düteauen und deren Tierwelt nicht zu stören, sollte der Gang aber auf die ruhigen Straßen und Wege beschränkt bleiben, von denen sich ohnehin schönste Ausblicke in die Umgebung genießen lassen.
Text und Fotos: Dr. Christoph Beyer
(Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages NOZ)